Wenn Geschwister streiten

Wir kennen es alle: Schreien, zetern, beschimpfen und letztendlich Türen knallen. So oder eben genauso nur anders hört es sich doch an, wenn Kinder streiten. Übrigens: Wenn Erwachsene streiten, hört es sich - je nach Temperament und Streitkultur - nicht wirklich anders an.
In Gesprächen mit anderen Eltern habe ich oft den Eindruck, dass man nur ungern über Streit unter Geschwistern redet. Streit...das Thema ist ja ohnehin zumeist sehr negativ besetzt. Dabei finde ich, dass es zum Alltag und zu gesunden Beziehungen dazugehört.
Immer wieder werde ich gefragt, ob sich meine drei Kinder denn gut miteinander verstehen, ob sie miteinander spielen oder viel streiten würden. Die Formulierung der Frage legt die Annahme nahe, dass miteinander streiten in den Köpfen der Leute nicht unbedingt positiv besetzt ist. Dabei glaube ich, dass das Ausleben aller Emotionen in ihrer gesamten Vielfalt erst einmal eine gute Sache ist. Freude, Trauer, Wut, Genervt-Sein, Melancholie: Der Mensch durchlebt und erlebt so viele Emotionen, doch positiv betont wird in unserer Gesellschaft und den Medien zumeist nur Freude, Glück, Harmonie, Leichtigkeit und Lebenslust. Würde der Mensch tatsächlich nur von diesen Gefühlen umgeben sein, dann würde ich vermuten, dass er nicht ganz gesund ist oder in einem Paralleluniversum lebt - Scotti beam mich ab! Denn wo Freude ist, da ist oft auch Leid oder eben auch mal Wut. Leider werden wir nur selten ermutigt, auch diese Gefühle zuzulassen, auszuleben und zu zeigen; dabei sind sie ganz natürlich. Wie könnten wir sonst wissen, was Freude ist, wenn wir niemals auch Trauer verspürt haben?
Zurück zur Streitfrage: Meine Kinder streiten! Häufig, laut, vielfältig, spontan, oft, im Badezimmer, im Kinderzimmer, im Wohnzimmer, in allen übrigen Räumen der Wohnung, bei Aldi, bei Lidl, bei Rewe, bei Edeka, bei Netto, bei Norma, in jedem anderen x-beliebigen Supermarkt, hin und wieder begleitet von einander Schubsen oder einander etwas Wegnehmen und ja, es fallen auch kindgerechte Schimpfworte (oder eben jene, die von der Kita angeschleppt und zu Hause noch nicht negiert wurden). Und ich bin froh darüber, dass die Kinder sich in dieser Vielfalt streiten können und dies dürfen. Es ist nicht mein Bestreben, alles zu harmonisieren, denn dann würde ich mir im Alltag doch selbst etwas vormachen. Wie oft bin ich als Mama selbst gereizt, schlecht gelaunt, unfair, schimpfe oder mecker und das manchmal sogar auf Kosten der Kinder, ohne dass sie etwas dafür können. Hier die frohe Kunde: Ich bin mittlerweile Meisterin im Entschuldigen geworden. Das ist quasi meine Königsdisziplin, seit ich Mutter bin; zum Glück, denn auch das lernen die Kinder von mir: Einsichtig und mitfühlend sein, sich entschuldigen können, nach Lösungen für den nächsten Wutausbruch suchen.
Wie du merkst, ich bin Befürworter einer lebendigen Streitkultur. Doch die musste ich selbst erst erlernen. Früher sagte ich den Leuten oft: „Hör auf, mit mir zu diskutieren, denn ich werde schnell nachgiebig!“ An Streiten war da gar nicht zu denken. Das hätte mich gelähmt, denn ich wusste nicht so richtig, wie Streiten gelingen kann, ohne so auszuarten, dass es nur unnötige Probleme und Ärger verschafft.

Wichtig beim Streiten finde ich, dass es eine familieneigene Streitkultur gibt. Regeln, die für alle gleichermaßen gelten und allen klar sind. Bei uns ist zum Beispiel ganz klar, dass die Kinder auch laut und aufbrausend sein dürfen, nicht nur die Erwachsenen. Das wäre ja sonst irgendwie uncool. Wieso sollte ich als Erwachsener das Recht haben, meinen Gefühlen Raum zu geben und die Kinder dürfen dies nur leise oder flüsternd oder eben nur in angemessener Zimmerlautstärke?
Das Tolle an einer Streitkultur innerhalb der Familie ist, dass sie die Kinder widerstandsfähig macht für ihren Alltag außerhalb der Familie. Ich bin mir sicher, dass jemand, der gelernt hat, in einem sicheren Rahmen zu streiten, d.h. seine Gefühle wahrzunehmen, Argumente und Lösungen zu finden und zu diskutieren, auch dann Worte findet, wenn außerhalb des Zuhauses Streit oder Ungerechtigkeit entsteht. In der Schule zum Beispiel oder im Kindergarten. Da ist es oft wichtig, dass das Kind sprachfähig ist und lernt, seine Meinung zu formulieren, manchmal auch zu verteidigen.
Etwas weiteres, was toll ist am Streiten, ist die Tatsache, dass Kinder dabei Vertrauen und Sicherheit erfahren. Denn eins ist klar: Familie bietet uns einen exklusiven Schutzraum. Nur da, wo man sich absolut sicher fühlt, kann man auch frei seine Meinung und Wünsche kundtun. Wo sonst, wenn nicht in der Familie, kann man sich zoffen, doof sein oder auch mal daneben liegen, und weiß zu hundert Prozent, dass man vollkommen angenommen und geliebt ist. Die Familie bietet uns quasi (oder sollte es zumindest) einen ultimativen „Geliebtheitsbonus“, einen sicheren Rahmen, in dem wir einfach sein können und im besten Fall für Liebe und Anerkennung nichts leisten müssen, einfach weil das so ist!
Aus diesen und noch vielen anderen Gründen, die zu nennen diesen Beitrag zu lang machen würde, kann ich dem Streiten viel Positives abgewinnen. Ich möchte dich ermutigen und herausfordern, über deine, über eure eigene Streitkultur nachzudenken: Habt ihr eine Streitkultur in eurer Familie? Sind die Regeln für alle klar? Hast du jemals streiten gelernt? Hast du einen Zugang zu deinen Emotionen? Bestärkst du deine Kinder in ihren Emotionen oder sind Zorn und Wut vielleicht negativ geprägt aufgrund eigener Kindheitserfahrungen?
Viel Freude beim Forschen und Entdecken, beim Streiten und Versöhnen, beim Sich-Liebhaben und Sicher-Fühlen! Und wer weiß: Vielleicht sieht oder hört man sich ja mal beim Aldi, wenn sich die Kinder streiten;)

