Uroma erzählt
Was wir von der älteren Generation lernen können
Unser Sohn hat das Privileg, nicht nur von seinen beiden Omas verwöhnt zu werden. Auch seine Uroma hat mächtig Spaß, wenn der kleine Mann zu Besuch kommt. Wir haben ein gemeinsames Treffen dazu genutzt, um Uroma zu befragen und mal zu hören, wie das so war, früher, in ihrer Kindheit. Was war prägend für ihre Zeit? Wie lief das früher mit dem mehrgenerationellen Beisammensein? Alles Fragen, die ich hier im Interview gemeinsam mit Uroma beleuchte. Wenn ihr auch neugierig seid, was sich so im Laufe der Zeit verändert hat, dann lest doch mal rein!
„So, D., du bist ja nicht nur Oma, sondern auch Uroma und da hast du sicher einiges erlebt mit deinen 87 Jahren!“
Uroma D. (D): „Ja, bald sind es 88!“
„Und vor allem hast du ganz viel erlebt, was sich auch geschichtlich verändert hat, richtig?“
D: „Ja und vor allem, was sich auch so im Alltäglichen verändert hat. Wenn ich jetzt euch beobachte oder eure Kinder, dann ist das doch schon anders alles.“
„Magst du mal kurz erzählen, in welcher Zeit du aufgewachsen bist, als du Kind warst?“
D: „Ja, als ich Kind war, da wohnten wir in einer Siedlung, die war vom Reichsbahn-Ausbesserungswerk, da war mein Vater beschäftigt und da hatten wir für damalige Verhältnisse eine richtige, ja schon moderne Wohnung. Eine abgeschlossene Etagenwohnung mit einem Bad – ja, das Bad musste man allerdings noch bezahlen damals, monatlich. Und mit Boilern, wo heißes Wasser durchlief – nicht so komfortabel, wie heute -, aber für damalige Verhältnisse war das schon modern. Und dann war das eine Dreiraumwohnung, kein Balkon, aber jede Wohnung in dem Haus, ich glaub da waren sechs Parteien drin, die hatten jeder ein Stück Land, wo wirklich dann auch Gemüse angebaut wurde, Kartoffeln und dann damals noch Erbsen mit diesen Gestängen, die wurden auch aufgestellt und hochgezogen. Und, das weiß ich noch ganz genau, wir als Kinder hatten alle Freiheiten, draußen zu spielen, obwohl – sagen wir mal so – die Häuserzeile war eng bebaut, da war nicht viel Platz, aber wir konnten draußen rumlaufen, da hat keiner gefragt, wem das irgendwie gehört oder so.“
„Das Verkehrsaufkommen war zu damaliger Zeit sicher auch ein ganz anderes, stimmt´s?“
D: „Ach das kann man ja gar nicht nennen. Im Winter, da hatten wir ja noch Winter, so richtig mit Schnee, da war auch so ein bisschen eine abschüssige Straße und da sind wir gefahren (mit dem Schlitten). Da haben wohl die Erwachsenen auch für die paar Autos gestreut, aber das fegten wir wieder weg und fuhren wieder. Da hatten auch wir wieder die Freiheiten.“
„Dadurch, dass man zu eurer Zeit auf viel engerem Raum gelebt und viel selbst gemacht hat – auch in der Natur – hattet ihr einen ganz anderen Zugang zum draußen spielen, oder?“
D: „Ja, also draußen spielen, das war meine Art. Ich ging bei Wind und Wetter raus und wenn es regnete, dann kriegte ich ein Cape um, mit einer Kapuze und dann wartete ich draußen, bis die anderen kamen, sodass wir auch bei schlechtem Wetter draußen waren – also das war in der Beziehung eine große Freiheit.“
„Was würdest du sagen, war prägend für deine Kindheit bzw. was hat dich bis heute ins hohe Alter geprägt?“
D: „Ja, das kann ich dir sagen: Das war nachher die Kriegszeit. Als der Alarm aufkam und wir in der Schule waren, das war schlecht. Und da gab es ja Alarmstufen: „Voralarm“ nannte man das, „Hauptalarm“ und „akute Gefahr“ oder so ähnlich, und dann hatten die uns in der Schule erklärt, bei akuter Gefahr, dann machen die Sirenen so einen durchgängigen Ton. Ich weiß noch, als dieser Ton das erste Mal kam und ich musste nach Hause und hatte einen Schulweg, von der Schule nach Hause ging es nur bergauf, also von bestimmt guten 20 Minuten. Wir waren alle so aufgeregt, weil wir dachten, jetzt geht’s hier bei uns rund und da bin ich gerannt, regelrecht in Todesangst, kann man schon sagen. Und dann kam ich nach Hause und dann konnte ich nicht mehr, da musste meine Mutter mir einen Stuhl in den Flur stellen, damit ich mich erholen konnte. Der Angriff ist dann ganz woanders gekommen, der war gar nicht bei uns, aber das wussten wir noch nicht, da konnten wir als Kinder damals noch nicht mit umgehen – das war die schlimmste Zeit.
Mein Vater war in Polen im Einsatz, also nicht im Kriegseinsatz, sondern von seiner Firma, der deutschen Reichsbahn, wurden die Mitarbeiter dorthin abkommandiert, sodass meine Mutter mit mir alleine war. Das war vor allem nachts fürchterlich: Aus dem Schlaf gerissen mussten wir in Luftschutzkeller rennen und wenn dann der Alarm wieder zu Ende war, dann durften wir nach Hause aber uns nicht wieder ausziehen und ins Bett legen, sondern dann ging man zur Vorsicht angezogen ins Bett. Komisch, bis heute sitzt das im Gefühl, das war fürchterlich. Obwohl wir in Schwerte Ost, wo ich zu Hause war, noch nicht einmal akut getroffen worden sind. Schwerte ja, denn die griffen ja, ich sag mal große Firmen an, die lagen aber weiter weg.“
„Man hatte dann sicherlich nicht so ein unbeschwertes Kindheitsgefühl, wie man das heute kennt oder erlebt!“
D. „Nein, nein! Nein, überhaupt nicht. Und dann war da ja fast der Krieg schon zu Ende, da verunglückte mein Vater tödlich in Polen, das war Dezember 1944 und da konnten wir noch nicht mal hin. Meine Mutter wurde freigestellt, so dass sie mit mir zur Beerdigung hätte gehen können, aber das war gar nicht möglich. Also in der Beziehung, das war schon eine ganz schlimme Zeit, das muss man sagen. Und wenn ich an das Weihnachten denke, 44, da konnte meine Mutter gar nix an Geschenken oder so besorgen, man kriegte da ja nicht viel. Unser Nachbar, der hatte seiner Tochter so ein Spiel gemacht, so eine Mini - Kegelbahn und hatte für mich auch sowas gebastelt und da zehre ich noch heute von, denn sonst hätte ich gar nichts gekriegt. Wenn man dann sieht, was die Kinder heute alle nachgeworfen kriegen, wenn die Geburtstag haben oder so…“
„Ja, wir leben heute in einer Konsumgesellschaft und ihr habt noch Mangel erlebt.“
D: „Ja, Mangel und was ich auch hauptsächlich erlebt habe - das war nicht bei jedem - Hunger! Also da hab ich Hunger gehabt! Deshalb sag ich heute, ich kann heute noch schlecht - und das sind die Wirkungen von damals - schlecht oder gar nicht wegwerfen, was man noch essen kann, weil ich Hunger gekannt hab! Richtig Hunger! Wir kriegten Lebensmittel zugeteilt, auch Brot, da gab es ja Lebensmittelkarten, und da weiß ich noch, da kriegte glaub ich jeder von der Familie eine Schnitte morgens, eine Schnitte nachmittags und so. Und, wenn ich draußen spielte, ich sehe mich noch, Hunger bis am Kragen, dann, ja dann habe ich geschellt, ja und mein Opa gab mir seine Schnitte Brot ab. Das hab ich damals einfach genommen, nicht gewusst, was der opferte, der hatte auch Hunger. Und das Brot das war Maisbrot, da war unten so ein Wasserstreifen drin, das war nicht so schönes Brot, wie wir das jetzt haben. Ich kriegte auch vom Arzt mehr Lebensmittelkarten, weil ich unterernährt war und da waren ja viele Kinder, die nicht genug kriegten und wir waren ja auch im Wachsen. Also das war schon eine Zeit, die die Kinder heute ja gar nicht kennen – ich mein, das ist ja auch gut! Hunger ist ja nun nicht gerade ein Lehrmeister, aber das hat gewirkt bis jetzt. Das man das nicht vergisst, was Hunger wirklich macht. Also mein Opa (hält inne), dass man das erst im Erwachsenenalter spürt, was der getan hat, der hatte genauso einen Hunger wie wir auch und gab die Schnitte ab.“
„Das können wir, meine Generation, die nie Hunger erlebt hat, uns gar nicht vorstellen. Gab es früher durch die Umstände viel soziales Miteinander innerhalb der Nachbarschaft bzw. zwischen den Generationen?“
D: „Ja, aber unter den Erwachsenen nicht. Also die Kinder hatten viel Kontakt und Zusammenhalt und alles fand draußen statt, nicht drinnen. Daher habe ich zum Beispiel Kindergeburtstage in dem Sinne, wie das heute gemacht wird, überhaupt nicht kennen gelernt. Ob das nun unsere Art war, das kann sein, das weiß ich nicht so, aber du hattest damals auch nicht die finanziellen Möglichkeiten, irgendwas zu bieten oder so. Und ich erinnere mich, nachher, das war ja dann etwas später, als so die Fernsehgeräte aufkamen, dass mein Onkel als Erster in Witten-Heven ein Fernsehgerät hatte. Da gab es damals den „Frankenfeld“ (eine Unterhaltungssendung) und der kam ich glaub einmal in der Woche oder einmal im Monat, das weiß ich nicht mehr und dann durften wir zum Onkel kommen und auch mal gucken, weil wir sonst das nicht hatten.“
„Und Kontakte mit älteren Generationen oder Erwachsenen, zum Beispiel in der Nachbarschaft, hatte man das gar nicht?“
D: „Ja gut, meine Mutter, aber wenig. In geringem Maße hatten wir Bekannte aus Schwerte, das war so eine halbe Stunde Fußweg von uns und das war immer nur zum Geburtstag, also zu besonderen Ereignissen, nie mal einfach so, dass kannten wir nicht. Ich glaube, das war eine familiäre Sache, also das wüsste ich jetzt nicht, dass das alle gemacht haben.“
„Also mit älteren Leuten hattest du dann wahrscheinlich nur Kontakt, weil man zusammen gezogen ist durch den Krieg, oder?“
D: „Noch nicht mal, von meinem Vater die Eltern, die waren ja noch in Witten und die sah ich höchstens, höchstens einmal im Jahr, wenn Geburtstag war oder so, sonst gar nicht. Also dieses Besuchen, weil keiner ein Auto hatte, war ja gar nicht.“
„Wie erlebst du denn Kindheit heute, was hat sich verändert?“
D: „Für meine Begriffe wird alles zu sehr verwöhnt, so will ich mal sagen, weil wir einfach so leben können, dass die überhaupt keine Einschränkungen kriegen. Das empfinde ich so. Auch vermischte Familienverhältnisse, neu geheiratet, zugekommen und so weiter, was die Kinder dadurch alles bekommen: Von jedem Geschenke! Das können Kinder ja gar nicht alles verarbeiten, das ist, was ich meine, dass zu viel da drauf gehäuft wird und überhaupt kein Verzicht.“
„Was würdest du denn den Generationen heute wünschen, den Familien mit jungen Kindern, den Großeltern?“
D: „Ja, also ich kenne ja euren Plan (die Generationen wieder neu vernetzen), also da bin ich sehr für, für Alt und Jung! Das sagen die jetzt auch schon selber im Fernsehen, sonst geht es nicht!“
„Wenn man nicht näher zusammenrückt als Familie?“
D. „Ja nicht nur Familie, sondern überhaupt Alt und Jung zusammen. Deshalb gibt es ja auch hier schon, das gibt es ja überall viel, diese Seniorenwohnungen, die so zwischen gebaut werden. Das ist ja schon eine tolle Sache, nur, für mich: jetzt nochmal umziehen möchte ich auch nicht.
„Man bereitet sich zu wenig vor auf das Alter, wenn man noch jung ist, alles funktioniert, meinst du das?“
D: „Ja, genau. Als wir unser Haus kauften und das Haus war ja nun mit Treppen, Treppen, Treppen, da haben wir auch gesagt „Oh, wenn du hier mal alt wirst“. Das man in jungen Jahren schon irgendwas kriegen kann, dass dir Treppen zu viel werden, haste nicht bedacht. Und das ist irgendwie, was wo du nachher fragst: „Warste blind?“ Ja und jetzt: Ich geh ja, wenn überhaupt, mit Alten um, also die meine Zeit miterlebt haben, die jetzt dasselbe erleben wie ich und jeder klagt dann über die Einsamkeit. Das ist nachher, was auch zu Buche schlägt – da ist der Mensch gar nicht für geschaffen!“
„Ja, da fehlt das Miteinander, das man nochmal andere Berührungspunkte hat.“
D: „Ja, dass da überhaupt mal Leben kommt...jetzt hier bei dem schlechten Wetter. Und ich hab ja eine Traumlage (gemeint ist die Wohnung mit unverbaubarer Fernsicht). Und theoretisch hat alles plus und minus – ja so schön die Lage ist, du musst irgendwann, wenn du nach Hause willst, bergauf. Du kannst laufen hier wie du willst, kannst kommen von wo du willst: irgendwo geht es immer bergauf. Und wenn dir das schwer fällt, dann ist bergauf nicht das bergauf, wie ihr es erlebt. Da würdet ihr noch fragen: „Wo geht’s hier Bergauf?“
„Vielen Dank für all diese Eindrücke aus deiner Kindheit, deine Erlebnisse und deine Wahrnehmungen, wie die Welt heute ist und früher einmal war. Ich denke, da kann man für vieles dankbar sein, was wir – meine Generation – heute erleben, was für uns normal ist. Vieles macht mich aber auch nachdenklich und lässt mich zum Beispiel hinterfragen, ob weniger nicht manchmal mehr ist, was beispielsweise unser Konsumverhalten anbelangt. In einem Punkt jedenfalls stimme ich dir vollkommen zu: Wir brauchen mehr Miteinander, damit sich das Leben, vor allem im Alter, lebendig anfühlt und damit die junge Generation neue Impulse bekommt aus einer Zeit, die sie so nie kennengelernt hat!
Vielen Dank für deine Bereitschaft, uns so frei aus deinem Leben zu erzählen! Vielleicht regt dieses Interview auch den ein oder anderen Leser dazu an, Oma oder Opa nochmal genauer zu befragen, wie das Leben früher ablief.“