"Um ein Kind zu erziehen,
braucht es ein ganzes Dorf!"
(afrikanisches Sprichwort)
Dieses Sprichwort ist uns allen bekannt. Jeder hat es schon mal irgendwo beiläufig in einem Satz fallen hören, während die Herumstehenden wohlwollend nicken. Doch ist uns eigentlich bewusst, was dieses Sprichwort in der gelebten Konsequenz bedeutet? Wie würde mein Leben mit Kindern denn aussehen, wenn „ein ganzes Dorf“ miterziehen darf? Und wer gehört überhaupt zum ganzen Dorf, etwa auch die nervigen Mitmenschen, die sich das Recht nehmen, mich in meinem Erziehungsstil zu korrigieren?
Ich stelle in Alltagsgesprächen immer wieder fest, dass das Wort korrigieren in Bezug auf Erziehung sehr negativ erlebt wird. Oft heißt es dann, es gäbe beim Thema Erziehung kein richtig und falsch, dann sei das Wort korrigieren auch nicht passend.
Für mich kommt es bei Korrektur vor allem darauf an, wer mich korrigiert und wem ich in meinem Umfeld das Recht gebe, in mein Leben zu sprechen. Korrektur bedeutet für mich nichts anderes, als dass die Menschen, die in meinem Alltag sehr präsent und mir vertraut sind, mir die Dinge aufzeigen können, die ich nicht sehe. Denn: Wir alle haben blinde Flecke, ob wir wollen oder nicht.
So wurde zum Beispiel 1955 das Johari-Fenster als ein Instrument der Persönlichkeitspsychologie speziell dafür entwickelt, die Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu demonstrieren und unsere „blinden Flecken“ für uns selbst sichtbar zu machen. Je sichtbarer diese „Flecken“ für mich werden, umso besser lerne ich mich und meine Lebenssysteme kennen, zu handhaben und meinen Handlungsspielraum zu weiten.
„Blinde Flecken“ sind dabei nicht per se schlecht – es sind nur Verhaltensmuster, die mir nicht bewusst sind und erst durch ein Feedback von außen, von Menschen meiner unmittelbaren Umgebung, mir bewusstwerden können.
Wie wertvoll ist ein solches Feedback für mich, wenn mir Menschen, die mir nahestehen und denen ich vertraue, Dinge aufzeigen können, die mir offensichtlich nicht bewusst sind oder mich in meinem Handeln hinterfragen dürfen, um mich in meiner Fähigkeit zur Selbstreflexion zu stärken.
Natürlich kann jetzt nicht jeder daherkommen und mir `nen Keks an die Backe labern, was ich denn besser machen könnte. Das dürfen nur die Leute, denen ich das Recht dazu gegeben habe. Dazu zählen die Leute, die zu meinem Dorf gehören und die unverzichtbar sind in meinem Leben, wie gute Freunde, Oma und Opa, Familie, aber auch ältere Menschen, die Erfahrungswerte haben, die mir fehlen. Denn erst durch liebevolle „Korrektur“ von außen kann ich auf Dinge achten, die mir sonst nicht auffallen würden, kann ich Handlungen hinterfragen, verstärken oder gegebenenfalls ändern. Ich habe das selbst sehr positiv erlebt:
Als ich mit meinem Mann zusammenkam und klar war, dass ich zur Familie gehören werde, bat meine Schwiegermutter mich darum, die Dinge anzusprechen, die ich komisch finde oder nicht verstehe, was das Familiensystem anbelangt. Ich fand das anfangs sehr befremdlich und war mir sicher, dass ich mich das niemals trauen würde. Doch es kam irgendwann der Punkt (und ich glaube, dass das tatsächlich auf jede Form von Gemeinschaftsleben zutrifft), an dem mir die anderen so sehr auf den Sack gingen, weil ich nicht verstand, warum sie taten, was sie taten, dass ich dann doch all meinen Mut zusammennahm und erzählte, was mir aufgefallen war.
Erst dabei merkte ich, wie gut es ist, über diese Dinge zu sprechen, denn die Personen selbst hatten das, was ich ansprach, überhaupt nicht im Blick. Oft sind Verhaltensmuster für uns so normal, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen oder hinterfragen. Sprechen wir sie aber an, haben wir die Chance, Dinge zu erklären, den anderen besser zu verstehen, Verhalten zu ändern und Beziehungen zu verbessern.
Warum also fällt es uns so schwer, mit Korrektur, die oft nichts anderes ist als der Blick eines anderen Menschen auf mich und meine Situation, umzugehen?
Ich denke, ein wesentlicher Punkt ist, dass wir Korrektur oft auf unseren Wert beziehen. Wir Menschen neigen dazu, zu hören „Du machst das nicht richtig!“ und dann damit einhergehend zu fühlen und zu urteilen „Also bist du falsch!“ oder „Du hast versagt!“ - vor allem dann, wenn es bei uns Eltern um unsere Kinder geht.
Ich bin absolut der Überzeugung, dass wir als Menschen nicht dazu gemacht sind, völlig frei und autonom zu leben und damit auch nicht, unabhängig von jeglicher Gemeinschaft Kinder groß zu ziehen – wir brauchen einander!
Früher war es völlig normal, dass die Familie beieinander wohnt, sich unterstützt, voneinander und miteinander lernt, Leben gestaltet. Heute sollen Oma und Opa, Tante, Onkel, Freunde und Bekannte zwar Zeit für uns haben, um uns für andere Termine freizusetzen oder wenn wir mal jemanden brauchen, der nach den Kids sieht, aber wehe ihnen, sie kritisieren unser Familiensystem oder hinterfragen unser Verhalten. Das geht direkt an unseren Wert. Ich ertappe mich selbst hin und wieder, wie mir bei manchen Äußerungen zack! die Krone vom Kopf fällt und ich den „schlechte Mutter Sticker“ direkt auf der Stirn prangen habe.
Schon mal drüber nachgedacht, dass es bei Anfragen oder Äußerungen bezüglich Erziehung, das, was als unangenehme Korrektur empfunden wird, nicht um die Eltern, geschweige denn ihren Wert geht, sondern um das Wohl der Kinder?!
Anders formuliert: Wenn ich als Mama oder Papa einen Kommentar zu meinem Kind oder meinem Elternsein höre, dann kann ich mich doch entscheiden, wie ich die Aussage hören möchte:
Entweder emotional als eine Kritik an mir als Person oder aber sachlich als eine mögliche Option, mein Handlungsspektrum zugunsten der bestmöglichen Entwicklung meines Kindes und der Familie zu erweitern. Wenn es mir tatsächlich um das Wohlergehen von Kind und Familie geht, müsste mir dann nicht jede Korrektur willkommen sein? Auch dann, wenn dies eine Veränderung meines Verhaltens bedeuten würde? Und könnte ich mich nicht sogar darüber freuen, weil dadurch meine Handlungskompetenzen im oft stressigen Familienalltag reifen und wachsen würden?
Wir alle wissen doch und sind bestimmt darin einig, dass ich als Mama und Papa immer das Beste für mein Kind will und gleichzeitig darf ich auch wissen, dass ich nicht perfekt bin und immer Neues dazulernen darf.
Es gibt einfach Verhaltensmuster und Gewohnheiten, unbewusst natürlich, die uns manchmal daran hindern, das Beste, was wir wollen, auch tatsächlich zu tun. So gibt es zum Beispiel Verhaltensmuster in uns, die eine altersgemäße Förderung des Kindes hindern oder dem Kind nicht helfen, entwicklungsgemäß zu reifen. Ebenso gibt es elterliche Verhaltensmuster, die genau das Verhalten des Kindes begünstigen, was für das Kind selbst ungünstig ist und was sich beim Kind verstärkt und verfestigt, wenn wir als Eltern nicht an uns selbst arbeiten. Dasselbe gilt für die Erziehung zur Gemeinschaft: Es gibt Erziehungsverhalten, was die sozialen Fähigkeiten des Kindes nicht positiv unterstützt, womit dem Kind für das spätere Leben mehr Probleme bereitet werden, als das ihm damit geholfen wird. Wir handeln als Eltern doch immer wohlwollend gegenüber unseren Kindern, wir tun die Dinge nicht absichtlich, die ihnen schaden könnten, doch wir erkennen manches einfach nicht von alleine.
Es braucht also den Mut, jemand anderen die Dinge ansprechen zu lassen, die unserem Blick verborgen sind. Wir erwarten zwar Frustrationstoleranz von unseren Kindern, sind im Gegenzug aber nicht bereit, Kritik zu empfangen, weil uns das selbst zu sehr frustrieren, verletzen könnte? Das finde ich fast schon unfair.
Ich möchte dich ermutigen und herausfordern, offen und ehrlich zu dir selbst zu sein und dich zu fragen, ob es nicht auch hilfreich sein könnte, wenn jemand von außen mal auf die Dinge schauen darf, die für dich dein ganz normaler Alltag sind. Falls das nicht der Fall ist: Voll verständlich!
Falls doch: Vielleicht fällt dir eine Person ein, von der du weißt, dass sie vollkommen für dich ist und die dich viel im Alltagsgeschehen erlebt? Dann bitte sie, dir ein ehrliches Feedback zu geben, zu all dem, was sie beobachtet und nicht versteht.
Vielleicht kennst du auch deine Themen, zum Beispiel das, was dich gerade besonders herausfordert oder im Alltag mit deinen Kids an deine Grenzen bringt: dann braucht es manchmal Mut, jemand anderen zu fragen, wie er oder sie damit umgeht, denn: Erziehung braucht ein ganzes Dorf!