Lasst uns streiten!

Als Heldin täglicher sowie nächtlicher Streitdebatten mit meinem 3-jährigen Sohn, bei denen es mitunter um lebenswichtige Themen geht, wie zum Beispiel die Laustärkeregelung der Toniebox des Nachts, kann ich dir versichern: Kinder brauchen einen starken Partner zum Streiten!
Streiten, oder nennen wir es Konflikte austragen, ist ein Thema, dass uns allen bekannt ist, dem wir uns aber nicht unbedingt immer stellen wollen, weil es meistens unangenehme Gefühle weckt und in unserer Gesellschaft oft nicht gut abschneidet.
Sehnen sich Eltern in der Beziehung zu ihren Kindern nicht oft nach Harmonie und Übereinstimmung? Ich behaupte weiterhin: Kinder wollen und müssen sich streiten können!
Allein schon aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es wichtig, dass sich Kinder ab einem bestimmten Alter, nämlich in der sogenannten Trotzphase, von den Eltern und deren Meinungen und Ansichten abnabeln und Dinge ausdiskutieren und Grenzen testen können. Ein permanentes Streben nach Harmonie von Seiten der Eltern wäre an dieser Stelle nicht wirklich förderlich, denn erst in der Auseinandersetzung mit einer anderen Meinung kann ein Kind den eigenen Standpunkt entdecken und ausdrücken lernen.
Ich möchte noch einmal näher beleuchten, welche großartigen Vorteile Konflikte mit sich bringen: Im Konflikt möchte das Kind sich mitteilen, es möchte sich proaktiv an einem Thema beteiligen, es bildet sich eine eigene Meinung und lernt, mündig zu werden. Ein Konflikt steht für eine dynamische und lebendige Beziehung und gehört somit zu einer gesunden Beziehung unbedingt dazu.
Kinder suchen und brauchen ein Gegenüber, welches weder immer in Übereinstimmung mit dem Kind ist noch bestimmen darf, nur weil es älter ist. Sie brauchen ein Gegenüber, das auf Augenhöhe diskutiert, Diskrepanzen aushält und dem Kind hilft, verschiedenste Emotionen wahrzunehmen und zu lernen, damit umzugehen. All das passiert im lebendigen Konflikt. Ich möchte deshalb an dieser Stelle ermutigen: Streite dich mit deinem Kind.
Wichtig dabei finde ich, dass man nicht nach 5 Minuten nachgibt und das Kind seinen Willen bekommt, sondern dass man gemeinsam Lösungen findet. Einem Kind ab dem Alter von drei Jahren kann durchaus zugemutet werden, auszuhalten, dass Eltern eine andere Meinung haben und auch daran festhalten. Somit lernt das Kind nicht nur seine eigenen starken Emotionen und Empfindungen wahrzunehmen und zu benennen, sondern auch die seines Gegenübers. Es erlernt Empathie und Einfühlungsvermögen, wird damit in seinem Sozialverhalten und in seiner Resilienz gestärkt und auf ein Leben in der Gesellschaft vorbereitet.
Oft neigen Eltern dazu, einen Kompromiss zu finden. Doch seien wir mal ehrlich: Ist ein Kompromiss wirklich etwas, dass beide Parteien zufrieden stellt? Ich finde nicht, denn bei einem Kompromiss müssen beide Seiten von ihrer Vorstellung abrücken. Ganz schön unbefriedigend. Ist es nicht verlockender, wenn beide Seiten auf ihre Kosten kommen und somit eine Win-Win Situation entsteht? Wie das geht? Ganz einfach: Erst einmal gilt es herauszufinden, was hinter dem Wunsch der jeweiligen Streitpartei steckt. Welche Absicht steckt hinter der starren Meinung? Wenn die verborgene Motivation aufgedeckt ist, dann lassen sich oft Lösungen aushandeln, die beiden Parteien zugutekommen.
Ein Beispiel: Mama und Kind streiten um eine Orange. Wenn nicht klar ist, welche Absichten die jeweilige Partei mit der Orange hat, dann lassen sich keine Win-Win-Lösungen finden, sondern nur schlechte Kompromisse. Es gäbe die Möglichkeit, dass nur einer die Orange bekommt oder das man sie teilt.
Wenn man aber nun nachforschen würde, warum jeder die Orange haben möchte, könnte man herausfinden, dass die Mutter die Orange zum Plätzchen backen braucht, weil sie den Abrieb der Schale benötigt und das Kind die Orange benötigt, weil es sich aus ihr Saft pressen möchte. Beide Wünsche schließen einander nicht aus und die eine Orange könnte beide zufriedenstellen, also eine Win-Win Situation. Ein Kompromiss könnte das nicht. Es ist also wichtig, immer zuerst nach den tieferen Absichten zu suchen, denn nur dann kann man verhandeln oder nach einer Lösung suchen und eine Win-Win-Situation erreichen.

Und hier sind wir bereits beim nächsten wichtigen Punkt eines Streitgesprächs: Verhandeln! Beim Verhandeln sind die unterschiedlichen Standpunkte offenbar und man feilscht miteinander so lange, bis beide Seiten mit dem gemeinsam „erarbeiteten“ Ergebnis zufrieden sind und ein überzeugtes „Ja!!" zur Entscheidung finden. Wenn Kinder das Gefühl bekommen, mitentscheiden zu dürfen, sind sie ein aktiver Teil des Prozesses. Dies wiederum macht es den Kindern leichter, sich auch an die Abmachung zu halten, weil diese nicht oktroyiert wurde, sondern gemeinsam beschlossene Sache ist.
Ein Beispiel: Wenn mein Sohn des Nachts im Elternbett wach wird und schwer wieder einschlafen kann, dann wünscht er sich, mit seiner Toniebox Musik zu hören, die mit beruhigenden Klängen und Melodien eine kuschelige Atmosphäre kreiert. Problem? Ich selbst kann mit Musik nur schwer einschlafen, bin also zumeist dafür, dass die Musik, wenn sie laufen muss, nur leise im Hintergrund zu hören ist. Dieses Leise entspricht natürlich nicht dem Wunsch meines Sohnes. Es wird geschrien und lautstark debattiert. Diese Art von Streitigkeit wird dann oft im Badezimmer ausdiskutiert, damit nicht der Rest der Familie, der im Schlafzimmer schlummert, auch noch wach wird. Natürlich erfordert das von mir echte Willenskraft, zu nächtlicher Stunde aufzustehen, das Kind ins Badezimmer zu tragen, um sich dann auf einen Diskussionsprozess einzulassen, gegen ähhhhhhh, 3 Uhr nachts! Es wäre natürlich einfacher und bequemer, dem Wunsch meines Sohnes nachzugeben. Schon allein, um den friedvollen Schlaf der beiden jüngeren Schwestern nicht zu gefährden. Doch ich staune jedes Mal, wie wertvoll und wohltuend es ist, den Konfliktprozess bis zum Ende durchzustehen. Zumeist finden wir nach etwa zehn Minuten eine Einigung.
Im Fall der Toniebox teile ich meinem Kind mit, dass wir Musik hören können, aber leise, denn bei lauter Musik kann ich nicht einschlafen. Das findet mein Sohn natürlich doof, denn er will ja laute Musik hören. Die Absichten beider Parteien sind also geklärt. Nach ein paar Minuten des Verhandelns können wir uns beide darauf einigen, dass wir die Box leise lassen, sie aber etwas näher ans Bett stellen, so dass er die Musik besser hören kann. Diese Lösung ist beim Verhandeln und Feilschen entstanden. Die Situation ist für uns beide eine Win-Win-Situation: Mein Sohn kann seine Musik hören und ich muss nicht die volle Lautstärke ertragen. Wir geben einen Handschlag darauf und die Sache ist besiegelt: Friedvolles Einschlafen für beide Parteien. Sobald mein Sohn neben mir schnarcht, kann ich die Box ausstellen.
Das waren ein paar Einblicke in die Streitigkeiten meines Alltags, sicher hast du deine ganz eigenen Themen zu Hause. Ich hoffe diese Einblicke konnten etwas dazu beitragen dich für den nächsten Streit, dem du dich stellst, zu feiern, denn das ist echte Beziehungsarbeit. Ich wünsche dir viel Erfolg und noch viel mehr gute Verhandlungen mit deinen Kindern.