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Dat Kind muss an die frische Luft!
-Warum Naturerfahrungen für Kinder unerlässlich sind-

Kinder im Zelt

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem ständigen Wandel. Neue Haltungen, politische Entscheidungen, unvorhersehbare Katastrophen oder der Wunsch, aktuelle Verhältnisse um einer besseren Zukunft willen zu verändern, bewirken einen beständigen gesellschaftlichen Wandel – aber ist dieser Wandel tatsächlich auch immer ein Fortschritt?

Das frage ich mich besonders im Hinblick auf unser Verständnis von Kindheit und wie sie heute gelebt und gestaltet wird. Seit meiner eigenen Kindheit hat sich das Leben von Kindern in dieser Gesellschaft um Welten verändert. Aber ist die heutige Kindheit wirklich besser als die, an die ich mich immer wieder gerne zurückerinnere?

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Bundesland Thüringen, verbrachte ich einen Großteil meiner Kindheit damit, im Wald zu spielen, mit meinen Geschwistern zusammen über Bachläufe zu springen, im hohen Gras der ungemähten Wiesen verstecken zu spielen, Blumenkränze zu flechten, auf den Feldern, Drachen steigen zu lassen, im Winter auf dem Dorfteich Schlittschuh zu laufen und die Berge zum Rodeln zu nutzen.

Ich liebe diese Erinnerungen, sie sind mir zu einem wahren Schatz fürs ganze Leben geworden. Dies wird inzwischen auch von Seiten der Neurobiologie und Psychologie bestätigt. Man hat herausgefunden, dass gute Erinnerungen an die Kindheit ein Leben lang helfen:

 

  • eine glückliche Kindheit begünstigt die Gesundheit als Erwachsener

  • Menschen, die sich gern an ihre Zeit als Kind erinnern, neigen demnach etwas weniger zu Depressionen als andere; das ändert sich offenbar auch nicht, je länger diese Zeit zurückliegt. (Vgl. Kirschner)

Meine Kindheit war wie Lindgrens „Smalland“ eine persönlichkeitsstärkende Zeit zwischen Entdeckerfreiheit und Geborgenheit. Darin wurde sie mir zur Grundlage und einem Vorbild für das, was mir als Erzieherin heute wichtig ist und sich in den Werten und pädagogischen Richtlinien von Familienbande Trallafitti wiederfindet. Natur als Erlebnisraum ist dabei ein wesentlicher Aspekt. Doch wie gelingt es uns heute noch, unseren Kindern abenteuermutige Naturerfahrungen zu ermöglichen?

Zum einen leben wir heute zunehmend verstädtert, haben den ungeborenen Nachwuchs bereits für Pekip und JeKits angemeldet und hetzen durch volle Terminkalender ohne die Muße zu einem achtsamen Verweilen in der Natur. Zum anderen trauen wir den komischen Mitmenschen nicht, die draußen herumlaufen und haben außerdem viel zu viel Sachwissen über Zecken, den Fuchsbandwurm und andere im Grünen auf unsere Kinder lauernde „Gefahren“. Aber sind wir mal ehrlich: Zecken gab es auch schon früher, komische Leute, die frei herumlaufen auch und der Fuchsbandwurm...der wurde auch nicht erst gestern entdeckt.

Was ist also unser eigentliches Problem, Natur als Familien - Erlebnisraum zu erobern?

Ich glaube, wir haben vergessen, welch unschätzbaren Wert die Natur für uns und die persönlichkeitsstärkende Entwicklung unserer Kinder hat. Wir wissen zu wenig darüber, dass diese einfachen Dinge, wie beispielsweise in einem Schlammloch buddeln oder den Blättern zusehen, wie sie sich im Wind bewegen, so unglaublich wichtig für die kindliche Entwicklung sind.

Wir wissen zwar jede Menge darüber, welchen Frühförderkurs die Musikschule anbietet, welcher neue Sportverein der beste ist und vieles mehr. Doch wir würden uns eine Menge Zeit, Geld, Stress und Autofahrten ersparen, wenn wir wüssten, dass statt pädagogischer Förderung ein gemeinsamer Spaziergang mit den Kindern im Wald die bessere Wahl wäre. Denn, was wir vor lauter Wissen vergessen haben: Die Natur bietet die besten Fördermöglichkeiten, die, so würde ich ganz provokativ behaupten, kein Dienstleister der Welt bieten kann.

Wie die Natur die kindliche Entwicklung unterstützt, möchte ich in den nächsten Punkten aufzeigen, die ich mithilfe des Buches „Wie Kinder heute wachsen – Natur als Entwicklungsraum“ von Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther für euch zusammengestellt habe.

FLEXIBILITÄT: Natur lässt uns vielfältige und flexible Sinneserfahrungen machen, die es uns ermöglichen, uns gut an unsere Umgebung anzupassen. Das ist drinnen im Haus nicht möglich. Beispiel: Drinnen ist es entweder hell oder dunkel. Wir machen also das Licht an oder aus. Draußen gibt es ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Mal weht der Wind so stark, dass mir das Blätterdach, unter dem ich sitze, keinen Schatten mehr spendet. Mal muss ich blinzeln oder die Augen zukneifen, weil mich ein Sonnenstrahl kitzelt. Ich muss hin und wieder einen Sonnenhut tragen, um Schatten im Gesicht zu haben und vieles mehr. So ähnlich verhält es sich mit der Temperatur. Drinnen regulieren wir sie, indem wir die Heizung entweder auf oder abdrehen, je nachdem, ob es kalt oder warm ist. Im Freien erleben wir, dass es in der Sonne angenehm warm sein kann, während es im Schatten der Bäume kühler ist. Am Flusslauf, da wo Wasser ist, spüre ich ebenfalls die angenehme Kühle. Wenn ich schwitze, dann kann ich eine Jacke ausziehen und wenn der Wind plötzlich um die Ecke weht, dann ziehe ich die Kapuze hoch. Im Freien sammeln wir unzählige Sinneserlebnisse, lernen Reize wahrzunehmen, zu deuten, darauf zu reagieren und lernen uns selbst dabei wahrzunehmen und zu spüren. Dieses und vieles mehr lässt uns im Einklang mit der Natur sein, wir interagieren mit ihr, werden zu aktiven Teilhabern des Naturgeschehens. Auf diese Weise werden wir befähigt, auf sich schnell ändernde Verhältnisse zu reagieren, uns anzupassen, flexibel zu denken und zu agieren. Eine unschätzbare Fähigkeit, mit den unvorhersehbaren Ereignissen im Leben aktiv und kreativ umzugehen.

 

KREATIVITÄT: Kreativität gilt als eine der Schlüsselqualifikationen unserer Zukunft. Kreativität bezeichnet allgemein die Fähigkeit, Dinge hervorzubringen (auch zu denken), die neu sind. Wenn ich kreativ bin, dann denke und bringe ich etwas hervor, was mir selbst vorher unbekannt war. Kreative Kinder denken selbsttätig und neu, sie machen eigene Erfahrungen, beschreiten manchmal lange und umständliche Problemlösungswege, kommen aber dadurch zu eigenständigen und in ihnen selbst herangereiften Ergebnissen. Kinder, die in ihrer Kreativität gefördert wurden, haben es auf ihrem Lebensweg in mancherlei Hinsicht leichter: Sie können sich beispielsweise schneller auf neue Situationen einstellen, suchen und finden Lösungen für Probleme, die auch vom ausgetretenen Pfad abweichen und meistern schwierige Situationen, indem sie improvisieren und sich von klassischen Denkmustern lösen.

In Zukunft wird die Entwicklung der Kreativität eine immer größere Rolle spielen, denn je komplizierter und vielfältiger unsere Welt wird, umso eher wird derjenige mit all den Herausforderungen zurechtkommen, der von klein auf darin trainiert ist, flexibel, innovativ (also kreativ) zu denken und zu handeln. (Vgl. Stamer-Brandt)

Nährboden für die Entwicklung von Kreativität finden wir nicht in vorgefertigten und perfektionierten Umgebungen. Die Kinder von heute leben in kleinen Familien, machen nur noch eingeschränkte Geschwistererfahrungen und stehen eigentlich ständig unter erwachsener Beobachtung. Ihre Welt ist so perfektioniert, dass sie nur noch konsumieren brauchen. Eine Alternative dazu bieten Ausflüge und Auszeiten in der Natur, wo die Kinder selbsttätig Erfahrungen sammeln können.

Während wir drinnen oft mit Spielmaterialien spielen, die den Spielimpuls zumeist vorgeben und eher einseitig zu nutzen sind, ist Naturmaterial bei weitem wandelbarer. Ein Spielzeugauto kann ich durch den Raum bewegen und dazu Geräusche machen, ihm eine Garage bauen. Ein Stock, den ich auf dem Weg finde, kann sich in alles verwandeln, er begrenzt unsere Kreativität nicht, sondern heizt sie ein. Er gibt kein instrumentalisiertes Spielverhalten vor, sondern entlockt uns 1000 Ideen: Ich kann ihn zum Umrühren meiner Matschsuppe verwenden, er kann ein Zauberstab der Waldelfen sein, er lässt sich zum Zeichnen in der Erde verwenden oder kann in ein Waldmandala aus Naturmaterialien eingefügt werden und vieles mehr.

 

FREIHEIT UND GRENZEN: Natur gibt den Kindern Freiheiten und bietet zugleich Grenzen. Freiheit entsteht überall da in der Natur, wo Kinder ungehemmt entdecken, rennen, fühlen, toben und kreativ sein können. Natürliche Grenzen gehören aber selbstverständlich dazu: Ist es beispielsweise kalt, dann kann ich die Temperatur nicht erhöhen, wie in einem Innenraum. Ist ein Kind müde, dann bleibt der Heimweg trotzdem zu bewältigen – die Natur gibt Situationen vor, an die sich das Kind anpassen muss und somit ganz natürliche Grenzerfahrungen sammelt.

 

KÖRPERLICHE GESUNDHEIT: Unsere Kinder heute werden zunehmend kurzsichtig, dass stellen seit etwa 25 Jahren Augenärzte fest. Immer mehr Kinder beenden die Grundschule mit einer Brille aufgrund von Kurzsichtigkeit. Warum? Unsere Kinder verbringen zunehmend mehr Zeit in Innenräumen, vor Bildschirmen, mit digitalen Medien, statt sich draußen an der Natur satt zu sehen, ihren Scharfsinn zu trainieren. Das Licht, welchem die Kinder draußen in der Natur ausgesetzt sind, ist für die Entwicklung des Augapfels sehr wichtig. Wenn sich Kinder zwei bis drei Stunden täglich draußen aufhalten und im natürlichen Licht bewegen, wirkt das Kurzsichtigkeit entgegen. Darüber hinaus gilt es heute als wissenschaftlich bewiesen, dass Kinder, die viel in der Natur spielen, eher schlank bleiben, ein besseres Immunsystem haben, tiefer schlafen und insgesamt gesünder sind als Kinder, die sich zumeist in Räumen aufhalten. Wenn sich also müde Eltern an so manchen Abenden, an denen sich das Einschlafen der Kinder trotz Abendroutine sehr schleppend gestaltet, fragen, was da helfen könnte, wäre auch hier die Antwort: Lasst die Kinder lange an der frischen Luft, denn viel Zeit spielerisch in der Natur verbringen lässt Kinder besser schlafen. (Vgl. Renz-Polster; Hüther)

Quellen

 

Kirschner, Sebastian: „Glückliche Kinder werden gesunde Erwachsene“, unter: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/psychologie-glueckliche-kinder-werden-gesunde-erwachsene-1.4197327 (abgerufen am 19.06.23).

 

Renz-Polster, Herbert; Hüther, Gerald (2022): Wie Kinder heute wachsen. Weinheim Basel: Beltz Verlag.

 

Stamer-Brandt, Petra: „Erziehungsziel: Kreativitätsförderung“, unter: https://www.familienhandbuch.de/babys-kinder/bildungsbereiche/musik/erziehungszielkreativitaetsfoerderung.php (abgerufen am 20.06.23).

 

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